Automatisieren wir das Richtige?

Der Kunststoffspezialist Igus gehört zu den wenigen heimischen Herstellern, die das Thema „Low Cost“ offensiv angehen. Sprich, die bei ihren Produkten nicht nur den Preis, sondern auch das Präzisionsniveau senken. Und das ist nicht im Geringsten negativ gemeint. Von den meisten anderen Herstellern der Branche lese ich in den Pressemeldungen meist Attribute wie „äußerst präzise“ oder „hochgenau“. Die Frage stellt sich: Sind die deutschen Unternehmen damit auf dem richtigen Weg? Ist der Fokus auf das Highend-Segment zukunftsweisend? In einer Zeit, in der das hochpräzise Fräsen eines Ventilsitzes für den Reihensechszylinder aus der Mode kommt und in der man vom Fachkräftemangel ebensoviel hört wie vom Rohstoffmangel, sollte man zumindest einmal über Alternativen nachdenken.

Zum Beispiel bei der Müllabfuhr. Da ließen sich doch Arbeitskräfte einsparen, die in anderen Branchen benötigt werden: Täglich fahren dicke Lastwagen durch die Straßen und an ihrem Heck springen Männer (und in homöopatischen Dosen auch mal Frauen) vom Außen-Stehplatz herunter, um die schweren Tonnen an die Müllpresse zu wuchten. Die Arbeit ist körperlich anstrengend und je nach Wetter auch reichlich unangenehm. Warum werden diese Tätigkeiten nicht automatisiert? In Schweden wird das seit einiger Zeit getestet, immerhin. Aber warum nicht im Auto- und Automatisierungsland Deutschland? Klar, es ist nicht einfach, die Umgebung am Straßenrand ist komplex. Aber es gäbe ja positive Nebeneffekte, die sich lohnen könnten: Wenn ein Roboter den Müll auf den Laster hievt, kann er die Tonne natürlich auch gleich wiegen, Stichwort Big Data Analysis. Oder Pay per Use. Und womöglich könnte der Abfall mittels klug eingesetzter Sensorik auch gleich noch vorsortiert oder wenigstens gesichtet und bewertet werden – Daten sind das neue Gold, heißt es doch immer.

Deutsche Datenallergie

Aber nein, deutsche Ingenieure sind zurückhaltend. Wer sich jahrzehntelang im Mikrometerbereich getummelt hat, dem fällt es offenbar schwer, Präzisionsanforderungen im Millimeterbereich überhaupt ernst zu nehmen. Und die Sache mit den Daten, da ist der deutsche Michel ohnehin eigen. Wo kämem wir da hin, wenn der Müll-Entsorger wüsste, von welchem Material der Bürger wie viel weggeworfen hat? Dabei ließe sich das durchaus anonymisieren.

Aber die Deutschen und die Daten, das ist eine Sache für sich. In kaum einem Land der Welt sind in Google Street View so viele Hausfassaden verpixelt wie bei uns. Die stellenweise übertriebene Datenvorsicht der Deutschen führt mir auch der jährliche Verhaltensvergleich an der Supermarktkasse im Urlaubsland vor Augen. Während in Paris auch die Rentner ganz selbstverständlich mit dem Smartphone per NFC bezahlen – oft sogar per Smartwatch, ich habe es selbst gesehen – kramen deutsche Senioren (und auch viele Jüngere) an den Kassen noch immer mit Bargeld herum. Besonders auffällig war es im letzten Urlaub in Skandinavien, wo mir der Verkäufer an der Kiosk-Kasse schon vorsorglich zugerufen hat „no cash, only cards“. Habe ich so nach Tourist ausgesehen? Und auch die automatisierten Supermärkte ohne Kasse, die den Einkauf über RFID und clevere Kamerasysteme nachverfolgen, sieht man in Skandinavien schon im Einsatz, wo sie von Aldi nun langsam auch bei uns in die Testphase kommen. Gut, es gibt in Schweden jeweils noch eine Kasse mit echten Menschen, sicherheitshalber, aber tendenziell wird in Nordeuropa Personal eingespart. Schließlich ist der menschliche Faktor in anderen Berufen eher gefragt als beim Mülltonne wuchten oder Milchtüten über einen Scanner ziehen. In der Pflege zum Beispiel.

Billiges Personal statt Automation

Womöglich liegt es am Geld. Denn Automatisierung ist ja nicht per se günstiger als Handarbeit. Der Müllmann ist wohl auf absehbare Zeit billiger als die meisten Roboter, so viele Daten lassen sich aus dem Abfall gar nicht generieren. Das gilt vor allem, weil die heimische Abfallwirtschaft bevorzugt auf preiswerte Arbeitskräfte mit Migrationsgeschichte setzt – wir brauchen Zuwanderung gegen den Fachkräftemangel, so das Mantra aller gängigen Fachverbände bis hin zu VDMA und ZVEI. Der Unterschied scheint klar: In Deutschland will man das Problem des demographischen Wandels mit billigen Arbeitskräften lösen, im Ausland mit Hilfe von Automatisierungstechnik.

Das gilt auch jenseits der Abfallwirtschaft: Wer will schon Schweißer werden, wenn er dann in einer stinkenden Halle unergonomische Tätigkeiten verrichten soll? Wer will noch Bäcker werden, wenn er nachts um drei Brötchen rollen soll? Die offenen Stellen, gerade für Azubis, in diesen und ähnlichen Berufen sprechen eine deutliche Sprache. Es mag ja sein, dass sich Afghanen oder Ukrainer jetzt für die ungeliebten Jobs anwerben lassen. Aber spätestens deren Kinder wollen das auch nicht mehr. Umso mehr gilt es, preiswerte und gegebenenfalls weniger präzise Automatisierungstechnik in Bereichen zu etablieren, in denen Menschen ungeliebte, monotone oder körperlich schwere Tätigkeiten verrichten. In der Gebäudereinigung, beim Pizzabäcker, im Zahnlabor, in der Landwirtschaft, und womöglich auch im Haushalt.

Für die Präszisionsfanatiker: Natürlich gibt es in der Batterie- oder Chipfertigung ebenso wie in Bio- und Medizintechnik noch ausreichend Möglichkeiten, in den Nanometerbereich vorzustoßen. Aber wenn Sie keine Produktreihe für weniger anspruchsvolle Anwendungen auf den Markt bringen, tut es ein anderer. Und die großen Stückzahlen liegen dort.

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