Der Digital Twin im Mittelpunkt

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Die hohe Skalierbarkeit und Rechenleistung von Cloud-Plattformen auch für die Steuerungstechnik nutzbar machen: Dieser Gedanke bildete 2017 Grundlage der ersten Veranstaltung ‚Stuttgarter Innovationstage – Steuerungstechnik aus der Cloud‘. Seitdem wird der zweitägige Kongress (abgesehen von einer coronabedingten Zwangspause) jährlich durchgeführt und informiert über aktuelle Trends und Innovationen aus Steuerungstechnik und Digitalisierung. In diesem Jahr lag der Fokus des Kongresses ganz auf dem digitalen Zwilling. Am ersten Tag ging es vor allem um das Grundkonzept des Digital Twin in der Produktion. Vorträge zur Definition und Funktionsweise leiteten die Veranstaltung ein. Einblicke in den Planungsvorgang und umgesetzte Anwendungen vertieften anschließend das Verständnis. Am zweiten Tag ging es weiter mit konkreten Anwendungsfällen und dem Zusammenspiel mit KI und Machine Learning.

Traditionell startete die Veranstaltung mit einer Begrüßung und Einführung von Institutsleiter Prof. Alexander Verl. Mit Blick auf den Fachkräftemangel schilderte er zudem, wie schwer sich selbst eine Top-Adresse wie das ISW aktuell tut, ausreichend Studierende für den Maschinenbau zu generieren/zu finden/anzuziehen. „Es gibt Hochschulstandorte, die haben mittlerweile mehr Professoren als Studienanfänger“, so Verl augenzwinkernd.

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Wichtige Schritte bei Mercedes Benz

Anschließend startete das Vortragsprogramm – mit zwei Keynotes, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Den Auftakt machte Dr. Steven Travers, Direktor Digitalisierung und Automation bei Mercedes Benz. Sein Credo: Obwohl die grundlegenden Gedanken teilweise bis in die 1990er-Jahre zurückreichen, können digitale Zwillinge jetzt ganz neue Dynamik in die industrielle Digitalisierung bringen. „Verschiedene Dinge haben sich in den letzten Jahren sehr stark verändert“, konstatierte Travers. Allem voran die (in der Cloud) verfügbare Rechenleistung aber auch Simulationsmodelle, Edge- und IoT-Lösungen sowie Mixed Reality mit AR und VR.

Um den digitalen Zwilling in der Fertigung aber wirklich zum Erfolg zu führen, müsse man sich den Wandel in der klassischen IT-Entwicklung vom Wasserfallmodell hin zu agilen Methoden (zu Software-Erstellung in Iteration, zu Test und Anwenderfeedback on the fly) zum Vorbild nehmen. Digitale Zwillinge sollen dabei helfen, diese Denke auf die Fertigung zu übertragen. „So lässt sich der maximalen Reifegrad im virtuellen Modell erreichen, bevor man in Stahl und Eisen geht“, so Travers. „Im Ergebnis gibt es beim Go Live dann viel weniger Schwierigkeiten und besseres Kundenfeedback.“ Bei Mercedes habe man in letzter Zeit wichtige Schritte in diese Richtung gemacht. So seien etwa komplette Anlagen bereits virtuell in Betrieb gegangen, obwohl es die Fabrik in echt noch gar nicht gibt.

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Korrekte Definition des Digital Twins

„Mit leistungsfähigen digitalen Zwillingen lässt sich in beide Richtungen optimieren: Mit dem Digital Twin des Produkts die Produktion – und umgekehrt“, zog Travers sein Fazit. Er betonte aber auch: „Der digitale Zwilling ist kein pauschales Synonym für Digitalisierung“, und lieferte damit eine Steilvorlage für die Keynote Nummer zwei. Diese steuerte Andreas Wortmann bei, seines Zeichens Junior Professor für Informatik und der jüngste Zugang der ISW-Institutsleitung. Anlässlich eines Jahrzehnts der Forschung zu Cyber-physikalischen Systemen versuchte er in seinem Grundlagenvortrag mit Halbwissen und Unklarheiten aufzuräumen. „Es gibt kein allgemeingültiges Verständnis dafür, was ein digitaler Zwilling ist“, unterstrich Wortmann. Aber es gebe sinnvolle Definitionen – etwa die Kategorisierung von Werner Kritzinger, die verschiedene Entwicklungsstufen unterscheidet: digitales Modell, digitaler Schatten und digitaler Zwilling. Allen drei gemein ist, dass sich reales Objekt und digitales Abbild stets aufeinander beziehen. Den Unterschied macht, ob der Abgleich von Daten und Eigenschaften manuell oder automatisch erfolgt. Beim digitalen Modell muss er in beide Richtungen händisch erfolgen. Der Datenfluss beim digitalen Schatten läuft in eine Richtung schon automatisch, nämlich vom realen Objekt zum Abbild. Erst beim digitalen Zwilling geschieht der Informationsabgleich samt aller Metadaten vollkommen automatisiert – gegebenenfalls unterstützt durch entsprechende Cloud-Lösungen. Ändern sich die Eigenschaften auf der einen Seite, so werden sie stets auch auf der anderen übernommen.

Wortmann sieht drei Herausforderungen, die dabei noch zu lösen sind: die automatische Ableitung von Eigenschaften für den digitalen Zwilling, die automatische Komposition bzw. die Wiederverwendbarkeit sowie die Anpassung von digitalen Zwillingen im laufenden Betrieb ohne manuellen Eingriff von Domänenexperten. „Biologische Zwillinge kommen gleich auf die Welt“, so Wortmann, „und entwickeln sich dann auseinander.“ Das dürfe beim digitalen Zwilling und dem realen Objekt nicht passieren. Ein noch zu lösendes Problem, das auf den Innovationstagen immer wieder aufkam.

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Fundament für ASE und SDM

Institutsleiter Prof. Oliver Riedel steuerte ebenfalls einen Vortrag bei. Er berichtete, wie der digitale Zwilling den Anwender auf dem Weg zum Advanced Systems Engineering (ASE) unterstützen kann. Bei ASE handelt es sich um ein Leitbild für die effiziente Entwicklung immer komplexer werdenden Marktleistungen, die sich etwa durch dynamische Vernetzung, Autonomie und begleitende Services auszeichnen. „Digitale Zwillinge sowie die durchgängige Nutzung eines Systemmodells als zentrale Referenzstruktur sind für Realisierung und Betrieb von ASE von zentraler Wichtigkeit“, bekräftigte Riedel. Zu nehmende Hürden auf dem Weg seien die nach wie vor bestehende Vielfalt an (proprietären) Schnittstellen sowie die nötige homogene Datenmodellierung.

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