Sackgasse? Ausgeschlossen!

Im Fokus der Vario-X-Plattform stehen einfache Installation und Verdrahtung sowie eine flexible Integration in Neumaschinen und Bestandsanlagen.
Im Fokus der Vario-X-Plattform stehen einfache Installation und Verdrahtung sowie eine flexible Integration in Neumaschinen und Bestandsanlagen.

Das Portfolio von Murrelektronik fokussierte bisher vor allem Verbindungstechnik für die Feldebene. Jetzt ein komplettes Automatisierungssystem – wie kommt es dazu?

Christian Kübler: Seit Jahren zielt Murrelektronik mit seinem Portfolio auf dezentrale Automatisierungslösungen ab – und damit auch darauf, Schaltschränke möglichst kompakt zu halten. Diesen Gedanken haben wir mit Vario-X jetzt auf die Steuerungsebene ausgeweitet, unter aderem durch das Knowhow unserer Tochterfirma Yacoub. Und so ist ein flexibles dezentrales System entstanden, wie es auf dem Markt bisher nicht zu finden war.

Geht denn die Tendenz in der Branche verstärkt zu dezentralen Automatisierungslösungen?

Kübler: Durch den Einzug neuer Technologien ist das Potenzial solcher Strukturen in der Fabrik massiv gewachsen. Es lassen sich dezentrale Anwendungen sehr kompakt umsetzen, für die es vor einigen Jahren noch zwingend eines Schaltschranks samt Klimatisierung bedurft hätte.

Olaf Prein: Parallel zu dieser Entwicklung können wir mit Vario-X generelle Entwicklungen wunderbar begleiten. Etwa mit Blick auf den steigenden Anspruch beim Thema Energieeffizienz. Denn mit Vario-X lassen sich Anlagenteile unkompliziert modernisieren, die bisher noch auf Pneumatik angewiesen waren. Parallel zum reduzierten Energieverbrauch erwarten den Anwender dann sogar mehr Dynamik, Präzision und Sicherheit. Auch mit Blick auf die zunehmende Flexibilität von Produktionsanlagen können dezentrale Lösungen ihre Vorteile gut ausspielen.

Peter Ohr: Diese zeigen sich auch oft, wenn es an die praktische Umsetzung der Elektroplanung geht. Bei zentralen Anwendungen tauchen in vielen Fällen noch Probleme auf, was wiederum für Komplikationen und Verzögerung sorgt. Mit Vario-X lässt sich der Spieß umdrehen: Der Anwender stellt erst das System zusammen und macht anschließend die Elektroplanung exakt nach der realisierten Lösung.

Prein: Last but not least darf man den Fachkräftemangel nicht vergessen. Auch hier zahlen sich dezentrale Lösungen wie die unsere aus.

Inwiefern?

Prein: Im modernen Schaltschrankbau ist nicht nur jede Menge Knowhow für die Konfektionierung und die Verdrahtung der Komponenten nötig. Es braucht zudem Fachleute für das passende Engineering und die CE-Konformität. Bei Vario-X lassen sich die Module ohne Spezialwissen montieren und verbinden – fehlerfrei und sicher. Und weil die Automatisierung in den Fabriken stetig zunimmt, bleibt nur diese Möglichkeit: Es muss einfacher werden! Bei der Wahl von Automatisierungslösungen wird das Installationskonzept künftig also zu einem wesentlichen Kriterium.

Das komplette Vario-X-System ist auf 48V ausgelegt. Ist das genug, um Pneumatik abzulösen?

Kübler: Für die Ablöse von Druckluft ist 48V-Technik in der Regel vollkommen ausreichend. Es gibt zwar Einschränkungen, was die Achsleistung angeht, aber nur bedingt. Schließlich lassen sich mit unserem 48V-Netzteil bei den typischen Anwendungen zehn Achsen parallel antreiben.

Ohr: Wir haben im letzten Jahr Präsentationen zu Vario-X bei rund 500 Kunden durchgeführt. Dabei hat sich gezeigt: Etwa 80 Prozent der Pneumatiklösungen lassen sich mit 48V-Technik ersetzen. Sind höhere Leistungen von Nöten, lassen sich aber auch stärkere Antriebslösungen über die Ethercat-Kommunikation an unser System anbinden.

Prein: Bei der Energieversorgung kommt auch wieder die Effizienz ins Spiel: Klassische 24- bzw. 48V-Netzteile im Schaltschrank sind meist nicht auf die Rückspeisung von Energie ausgelegt. Bei der Entwicklung von Vario-X war die Rückspeisefähigkeit von Anfang an gesetzt. Unter den heutigen Ansprüchen zu Nachhaltigkeit und Ressourcenschutz ist das ein treffendes Argument.

Ohr: Aus diesem Grund wird der Umstieg von pneumatischer auf elektrische Antriebstechnik meist aus dem Management getrieben, vor allem bei den Großkonzernen und Automobilbauern. Das bildet eine sehr attraktive Einstiegsbasis für Vario-X. Und mit Blick auf den in der Branche bereits etablierten Teil des Murrelektronik-Portfolios eilt uns unser Ruf voraus. Die Kunden wissen, dass sie sich auf die dezentralen Verbindungslösungen verlassen können. Deswegen müssen wir bei Vario-X bisweilen gar nicht viel Überzeugungsarbeit leisten.

Wie sieht denn die Basisstruktur des neuen Systems aus?

Prein: Das Fundament von Vario-X bildet eine Backplane in 480mm-Ausführung. Darauf werden unterschiedliche Funktionsmodule gesteckt, die sich je nach Bedarf kombinieren lassen. Die Kommunikationsbasis bzw. den Backbone dafür bildet Ethercat. Die komplette Plattform ist agnostisch mit übergeordneten Steuerungssystemen kombinierbar. Zudem setzt Vario-X auf Multiprotokoll-Chips. Wenn unsere Applikationssoftware nicht verwendet wird, kann der Anwender stattdessen beliebige Steuerungsarten integrieren und das dazugehörige Bussystem quer durch alle Module einsetzen. Auf diese Weise wird das Risiko ausgeschlossen, in eine Sackgasse zu geraten. Wir holen den Kunden dort ab, wo er aktuell steht und begleiten ihn in die Zukunft.

Welche Module umfasst das System?

Kübler: Das Herzstück bildet der Industrie-PC Vario-CTRL 1.000. Mit einem leistungsstarken Quadcore-Prozessor und Hypervisor werden moderne Anforderungen hinsichtlich Security und IoT sehr gut abgedeckt. Im Sinne eines Edge-Gateways ist zudem genügend Rechenleistung für überlagerte Prozesse vorhanden, z.B. für Condition Monitoring, Predictive Maintenance oder Augmented Reality. Selbst für TSN ist der Controller bereits vorbereitet. Über eine serielle Schnittstelle lässt sich Vario-X aber auch komplett abgekoppelt von der Ethernet-Welt betreiben.

Prein: Der Kunde kann den IPC so einsetzen, wie er von uns vorbereitet ist. Oder er programmiert ihn über ein SDK komplett nach seinen eigenen Vorstellungen. Um die Leistungsfähigkeit zu testen, haben wir im Rahmen eines Stresstests 64 Antriebe und 64 I/O-Module angebunden – es sind also sogar Roboter-Controller ohne Schwierigkeiten abbildbar. Und wenn der Anwender noch mehr Leistung braucht, lassen sich zwei Controller miteinander kombinieren.

Kübler: Neben der Steuerung umfasst die Plattform ein Einspeisemodul mit Hauptschalter sowie die Energieversorgungen für 24 bzw. 48VDC. Direkt nachgelagert wird ein Feed-In/Feed-Out-Modul hinzukommen, um mehrere Backplanes zu verbinden. Dann lassen sich über Ethercat oder GBit-Ethernet weitere Stromversorgungen integrieren – etwa für Maschinenteile, die nicht von einem Power-Modul allein versorgt werden können. Der IPC kann dabei übergreifend für alle angeschlossenen Elemente eingesetzt werden.

Ohr: Hinzu kommt, dass sich ein beachtlicher Teil des Bestandsportfolios von Murrelektronik ebenfalls einbinden lässt – z.B. I/O-Module oder IO-Link-Master. Vario-X reicht also über die eigentliche Plattform hinaus vom Sensor bis in die Cloud. Dabei kann der Anwender Vario-X als eigenständige Steuerung nutzen oder als intelligentes Subsystem untergeordnet einbinden.

Vario-X ist als offenes Ökosystem positioniert. Was bedeutet das genau?

Kübler: Über die erwähnte Einbindung von Vario-X in Steuerungsstrukturen hinaus, ist das System in mehrerer Hinsicht offen. Zum einen sind über Ethercat, CAN oder IO-Link alle möglichen Antriebe integrierbar. Zum anderen wollen wir es Kooperationspartnern anbieten, weitere Funktionen und Module für die Plattform zu ergänzen – unter ihrem eigenen Namen oder als Brandlabel-Lösung.

Ohr: Seit der Vorstellung des Systems haben uns bereits viele Unternehmen auf eine mögliche Partnerschaft angesprochen – darunter auch sehr spannende und große Namen. Und dabei geht es nicht nur um die Antriebstechnik, sondern z.B. auch um die HMI-Anbindung oder Energieverteilung. Wir können hier sicherlich bald die ersten Ergebnisse bekannt geben.

Die Leistungselektronik will Murrelektronik aber nicht beisteuern?

Kübler: Nein. Es gibt auf dem Markt so viele Antriebshersteller. Da lohnt es aus unserer Sicht kaum, in den Aufbau von eigenem Knowhow zu investieren. Der große Kundennutzen von Vario-X liegt ja auch nicht in der Antriebstechnik, sondern im Installations- und Verdrahtungskonzept. Damit kann der Anwender die Kosten massiv reduzieren. Zudem besteht unsere Rolle darin, den Anwender mit guten und leistungsstarken Netzteilen zu unterstützen.

Und wie sieht es bei der Software aus?

Prein: Hier werden wir ein offenes Framework etablieren. Als Basis, um das System in moderne Tool-Strukturen für die Maschinen- und Anlagensteuerung einzubinden – gerade mit Blick auf den digitalen Zwilling.

Kübler: Bei der Steuerungsentwicklung setzen wir bislang auf Codesys, bleiben für die Zukunft aber auch hier komplett offen – z.B., was neue App-basierte Entwicklungs- und Steuerungsumgebungen angeht. Zentrales Ziel bleibt, dass der Anwender kein Spezialwissen mitbringen muss, um eine Automatisierungsanwendung zu entwickeln.

An welche Branchen richten Sie sich mit Vario-X?

Ohr: Im ersten Schritt haben wir uns für drei Stoßrichtungen entschieden: Intralogistik, Verpackungstechnik und Automotive. Überall dort ist die durchgängige Integration von Steuerungslösungen bereits jetzt hoch aufgehängt. Auch bei den klassischen Werkzeugmaschinenbauern sehen wir großes Potenzial. Darüber hinaus bleiben wir offen für andere Industriezweige.

Kübler: Wir müssen anfangs gewisse Schwerpunkte legen. Dann kommt eine gewisse Lernkurve dazu, wenn man wie Murrelektronik mit Vario-X Neuland betritt. Wir müssen uns treu bleiben und uns trotz der neuen Mission stets bewusst sein, wo wir herkommen. Nur so können wir bei den Kunden glaubwürdig und erfolgreich auftreten.

Hat Vario-X das Zeug dazu, klassische Schaltschränke komplett obsolet zu machen?

Prein: Pauschal zu behaupten, Vario-X wird den Schaltschrank ersetzen, halte ich nicht für sinnvoll. Darauf ist das System in seinem Umfang auch nicht ausgerichtet.

Ohr: Es wird letztlich so eingesetzt werden, wie es für die Anwendung am besten ist. Dass aber allgemein ein Bewusstseinswandel stattfindet, hat die Automobilindustrie bereits vorgemacht: Dort geht es mittlerweile auch mit weniger Schaltschränken – was deutliche Vorteile bei der Installation und Instandhaltung mit sich bringt. Aber das passiert nicht von heute auf morgen, sondern ist ein stetiger Prozess.

Prein: Natürlich müssen die richtigen Technologien dafür bereit stehen. Hier befindet sich der Maschinen- und Anlagenbau schon seit langem auf einer Reise. Und aus unserer Sicht ist Vario-X ein wichtiger Meilenstein auf diesem Weg. Im Fokus stehen die einfache Installation und Verdrahtung, damit verbundene Kosteneinsparungen sowie die flexible Integration in moderne Maschinenstrukturen und Bestandsanlagen. Letztlich bietet das System dem Anwender auch alle Möglichkeiten für einen schrittweisen Einstieg in durchgehende Connectivity, den digitalen Zwilling und damit verbunden auch in neue Geschäftsmodelle.

Ohr: Dabei kann Murrelektronik den Anwender begleiten und bei der Entwicklung der Applikation tatkräftig unterstützen. Mittelfristig sollen unsere Kunden Vario-X aber komplett selbstständig einsetzen und nutzen. Und die Leistung und Funktionalität des Systems dabei wie mit einem Schieberegler skalieren – genauso, wie es die jeweilige Anwendung erfordert.

Olaf Prein, Leiter der Business Unit Automation

Peter Ohr, Head of Global Account Management

Christian Kübler, Produktmanager für Vario-X

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