Trauen wir uns ins Metaverse?

Es war meine bislang beeindruckendste Virtual-Reality-Erfahrung, die ich kürzlich auf der Hannover Messe erleben durfte. Mit einem Gaming-PC auf den Rücken geschnallt und einer VR-Brille auf dem Kopf befand ich mich mit fünf anderen Personen in einer rundum mit Kameras und Senoren ausgestatteten Halle und konnte mich durch den dreidimensionalen Lidar-Scan einer realen Fabrikhalle bewegen, in den das CAD-Modell einer neuen Fertigungsstraße integriert war – auf letzterem konnten live unterschiedliche Betriebsmodi simuliert werden. Die anderen Menschen in der Halle wurden als schwebende Oberkörper-Avatare in Polygonmuster dargestellt. Das war nicht realistisch, störte die Immersion, das Eintauchen in die virtuelle Welt, aber kein bisschen. Die geringen Latenzen der visuellen Darstellung in der Datenbrille und vor allem die Möglichkeit, sich im virtuellen Raum frei zu bewegen und auch mal fünf Meter von einer Seite der Maschine an die andere mit großen (realen) Schritten zu durchmessen, all das sorgte dafür, dass ich mich erstmals so fühlte, als sei ich wirklich in einer virtuellen Welt. Das Holodeck der Enterprise lässt grüßen.

Nun könnte man Derartiges als Spielerei abtun, als Marketing-Gag zu Messezeiten. Denn wahr ist: Datenbrillen und Virtual-Reality-Räume spuken schon seit fast 20 Jahren durch die Industrie, und ebenso lange konnten sie den Sprung aus der Kuriositäten-Ecke nicht schaffen. Doch mittlerweile ist das anders. Denn das Metaverse steht vor der Tür. Dieser Überzeugung ist zumindest Marianne Janik, Chefin von Microsoft Deutschland. Das Metaverse: Jene Welt, in der die physikalische Realität mit Augmented Reality (AR) und virtueller Realität (VR) in einer Cyberwelt verschmelzen, in der Blockchain, Bitcoin und NFT den Warenaustausch regeln. Das Metaverse, eigentlich eine Roman-Erfindung des amerikanischen Schriftstellers Neal Stephenson von 1992. Aber was soll’s, der Begriff Robotik stammt auch aus Isaac Asimovs Romanen der 1940er. Immerhin hat das Fantasiewort Facebook-Gründer Mark Zuckerberg dazu motiviert, seinen Konzern in Meta umzubenennen. Jetzt also Microsoft und die Industrie.

Die Corona-Pandemie, so die Microsoft-Chefin anlässlich der Hannover Messe, habe nicht nur dem Homeoffice und anderen Varianten des neu organisierten Arbeitens zum Durchbruch verholfen. Sehr viele Unternehmen hätten auch Verfahren nutzen müssen, bei denen Szenarien virtuell durchgespielt werden, bevor sie in der Produktion oder Produktentwicklung umgesetzt werden. Der rundum propagierte digitale Zwilling ist der Weg ins industrielle Metaverse – davon zeigen sich die Tech-Giganten des Silicon Valley überzeugt.

Ähnliches ahnen wohl die Vordenker im heimischen Maschinenbau und der Automatisierungsbranche. Die wissen allerdings auch, teils aus eigener leidvoller Erfahrung, um die Risiken einer vollständigen Vernetzung von OT und IT. Eine Gefahr, die in Zeiten auch regierungsamtlich ausgerufener Cyber-Kriegsführung drängender ist denn je. Aber nicht nur IT-Security ist ein Thema, auch die Hoheit über die Daten enthält Konfliktpotenzial. Entsprechend gespalten ist die Industrie. Während manche gerne global KI-Modelle teilen würden und Supply-Chain-Daten mit Energie- und Rohstoff-Informationen und der Verwaltungsschale des digitalen Zwillings vernetzen wollen, streiten andere noch darüber, ob Daten überhaupt geteilt werden sollen, wem sie gehören und wie aus ungeordneten Datenseen einmal Datenräume werden könnten. Die Grundfrage hinter allem: Sind Unternehmen bereit, ihre Daten zu teilen? Derzeit sieht es so aus, als wären sie das in Europa nur, wenn sich auch ein Business-Case daraus machen lässt. Und hier sieht es noch mau aus: Herausragende Beispiele für einen gewinnbringenden IoT-Einsatz fand man auf der Hannover Messe kaum.

Auf der anderen Seite: So, wie sich in den 1980ern die meisten Menschen nicht vorstellen konnten, dass alle unterschiedlichen, verteilten Computernetzwerke irgendwann unter dem Dach eines World Wide Web (www) vernetzt sein würden (viele ihrer damaligen Bedenken bezüglich der Datensicherheit hatten sich ja durchaus als berechtigt herausgestellt), so kann sich heute kaum ein Industrie-Verantwortlicher vorstellen, dass alle digitalen Zwillinge aller Werkhallen aller Unternehmen sich in einem gemeinsamen Metaverse tummeln werden. Heißt das, dass es nicht passiert? Eher im Gegenteil. Mittlerweile möchte man ja fast eine Wette darauf abschließen, dass das industrielle Metaverse früher kommt als erwartet.

Denn dass es dazu kommt, daran arbeiten auch deutsche Ingenieure fleißig mit: Zusammen mit der holländischen ASML sind es Trumpf und Zeiss, die die Herstellung der immer schnelleren, kleineren und gleichzeitig energieeffizienteren Halbleiterchips überhaupt ermöglichen. Ohne diese derzeit weltweit einzigartige Technologiekompetenz wären Strukturgrößen im einstelligen Nanometerbereich gar nicht denkbar. Mit ihnen jedoch gilt das Moorsche Gesetz weiter und die verfügbare Rechenleistung steigt und steigt. Wenn ich mir jetzt also vorstelle, dass die Power eines Gaming-PCs statt auf einem lüfterbewehrten Computer am Rücken direkt in die VR-Brillen integriert werden kann, dann glaube ich auch, dass es so viele neue Geschäftsmodelle für die Industrie geben wird, dass das industrielle Metaverse unausweichlich wird.

Wir Europäer sollten uns anstrengen, hier in der ersten Reihe mitzuspielen. Internet und Mobilfunk haben wir schon an USA und China verloren. In einer erneut in Blöcke zerfallenden Welt sollten wir die eine oder andere Kernkompetenz bei uns behalten. Die Basis ist gelegt!

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