„Wir treffen einen Nerv bei unseren Kunden“

Digitalisierung und IoT – zwei Begriffe, die in der Automatisierung lange Zeit mehr diskutiert als angewendet wurden. Hat der Maschinenbau mittlerweile verstanden, wie er die neuen Technologien zum Vorteil für sich und seine Kunden nutzen kann, Herr Dr. Lang?

Heiner Lang: Ja, das wurde gerade in der Pandemie deutlich. Bisher musste man nicht zwingend in die Cloud. Bisher musste man die Digitalisierung nicht zwingend bis auf die Feldebene treiben. Doch das letzte Jahr hat gezeigt, wie schnell man sich im Ernstfall von solchen Dogmen lösen muss. Unternehmen wurden quasi dazu gezwungen, neue Wege einzuschlagen, neue Prozesse zu etablieren. Für mich ist Corona deshalb der Brandbeschleuniger der Digitalisierung. Die Technologien gab es schon vorher. Aber dort, wo es noch an Mut gefehlt hatte, gab es jetzt keine Alternative mehr. In der Folge werden immer mehr IT-Werkzeuge genutzt, um die Produktion zu vernetzen – und zwar im besten Sinne einer Symbiose.

Dort wo bislang vor allem Sicherheitsrisiken und Gefahren gesehen wurden, zahlen sich jetzt die Vorteile konsequent aus.

Lang: Absolut. Ursprünglich sind hier ja wirklich zwei verschiedene Welten aufeinander geprallt: die eine recht offen und datenbasiert, die andere komplett deterministisch und proprietär. Sind die Welten anfangs sehr langsam verschmolzen, so ist das Geschäft mit IoT-Anbindung und Remote-Zugriff jetzt regelrecht explodiert – niemand stellt diese Funktionen mehr infrage. Glücklicherweise sind sie in den Controllern von Wago bereits standardmäßig integriert.

Dabei hat Wago seine Wurzeln ja eigentlich nicht in der Automatisierung, sondern in der Verbindungstechnik.

Lang: Die DNA von Wago liegt in der Federklemme. Das wird sich auch nicht ändern. Was sich allerdings ändert, ist der Stellenwert unseres Geschäftsfelds Automatisierung. Denn hier liegt das größere Zukunftspotenzial. Und hier sind wir auch in den letzten Jahren konstant zweistellig gewachsen. Die Automatisierung ist also ein ganz wichtiges Stück Zukunft für Wago.

Wie schlägt sich das in Ihrem Portfolio nieder?

Lang: Die Branche war Jahrzehnte komplett proprietär geprägt. Als Maschinenbauer konnte man entweder das Angebot von Firma A nutzen oder das Angebot von Firma B. Ein interoperabler Einsatz war kaum möglich und ist auch heute in vielen Fällen noch sehr schwierig – aus Anwenderperspektive natürlich unbefriedigend. Denn selbst die größten Automatisierungsanbieter können nicht alle Teile aus einer Hand liefern. Gerade wenn es um anspruchsvolle Anwendungen geht. Wago hat schon vor vielen Jahren einen anderen Weg eingeschlagen. Nämlich den zu größtmöglicher, aber dennoch echtzeitfähiger, Offenheit. Aus heutiger Sicht: Ganz klar eine Vorreiterrolle! Mit diesem Ansatz erhält der Maschinenbauer nicht nur modulare Steuerungshardware, sondern auch modulare Software-Container mit Docker-Schnittstelle. Beides kann er nach Belieben kombinieren. Im Zweifel muss die Software gar nicht von Wago kommen. Sie kann genauso gut selbstgeschrieben werden oder aus einer Online Community stammen. Unser Kunde generiert dadurch individuelle, perfekt passende Zusatzfunktionen. Mit diesem Ansatz treffen wir einen – dem Zeitgeist entsprechenden – Nerv bei unseren Kunden.

Was bedeutet das für die Positionierung von Wago auf dem Automatisierungsmarkt?

Lang: Das Einreißen der proprietären Schnittstellen eröffnet Wago eine riesengroße Chance. Denn wir übernehmen dann mit unseren Controllern den zentralen Part. Alle weiteren Bestandteile der Lösung, auch wenn wir sie nicht im eigenen Portfolio haben, lassen sich unkompliziert anbinden. Der große Vorteil auf beiden Seiten: Für Wago ist die Offenheit kein Paradigmenwechsel. Wir sind hier schon viele Jahre unterwegs und kennen uns aus. Zudem muss Wago, im Gegensatz zu den meisten Marktbegleitern, keine proprietäre Basis verteidigen. Stattdessen können wir durch unsere Erfahrung sogar Berührungsängsten auf Anwenderseite wunderbar entgegenwirken.

Bleibt das Hardwareportfolio auf Controller, HMIs und I/O-Module fokussiert oder wollen Sie noch weitere Automatisierungsdisziplinen ergänzen?

Lang: Aus unserer Sicht macht es keinen Sinn in neue Bereiche zu gehen, in denen es gute und zu unserem Ansatz passende Lösungen gibt. Die Frage ist vielmehr, wie man diese Bereiche noch besser an die Wago-Automatisierungswelt andocken kann – etwa die Antriebstechnik. Weil hier die Echtzeit eine große Rolle spielt, ist z.B. die Integration von Ethernet TSN bei Wago von hoher Bedeutung. Unser I/O-System ist mehr als TSN ready, es kann bereits TSN. Damit positionieren wir uns auch in diesem Bereich als Vorreiter. Gleichzeitig sorgen wir natürlich auch für die Einbindung aller proprietären Kommunikationsstandards, so lange diese noch nachgefragt werden.

Ist es in Zeiten von mehr Offenheit das Gebot der Stunde, sich als Automatisierer noch stärker auf seine Kernkompetenzen zu konzentrieren?

Lang: Ich bin überzeugt, dass es so ist. Effizienz und Produktivität werden künftig einer permanenten Optimierung unterzogen. Parallel werden Maschinen und Anlagen immer stärker spezifiziert und individualisiert – eng verzahnt mit der IT. Das kann man als Anbieter nicht mehr alleine stemmen, egal wie groß man ist. Deswegen konzentrieren wir uns darauf, was wir besonders gut können: Steuerungstechnik und Visualisierung, Kommunikation und Vernetzung, I/Os und Verbindungstechnik. Hier kennen wir sowohl die Anwendungen, als auch die Anforderungen. Hier bietet Wago echten Mehrwert. Bei allen weiteren Bausteinen sorgen wir dafür, dass sie der Kunde seiner Lösung einfach und sicher hinzufügen kann.

Ist auch dem Endanwender bewusst, dass die technologisch wertvollste Automatisierung nicht mehr komplett aus einer Hand kommt?

Lang: Es gibt in den Lastenheften eine klar erkennbare Tendenz zu mehr Offenheit. Restriktionen und Vorschriften hinsichtlich der Marken und Hersteller gehen zurück. Man spürt ja, dass sonst der Lösungsraum stark beschränkt wird. Über das steigende Bewusstsein für die neuen Technologien und offene Lösungen kommen wir bei Wago sehr gut ins Gespräch mit Endkunden. Dabei ergeben sich in der Regel komplett neue Möglichkeiten und ein sehr weitläufiger Lösungsraum.

Eine zentrale Voraussetzung ist dabei die Anbindung der Maschinen an höhere Ebenen und das IoT. Welche Stärken kann Wago hier ausspielen?

Lang: Der größte Vorteil ist unser Linux-basiertes Steuerungskonzept. Es ist die Grundlage, die unsere PFC-Controller nicht nur zum Schweizer Taschenmesser für die Automatisierung macht, sondern auch für das IoT. Und damit der Anwender wirklich alle Freiheiten umsetzen kann, ist die Software bei Wago agnostisch und nie auf eine bestimmte Hardware festgelegt. Beide Seiten sind komplett voneinander entkoppelt. Man entscheidet also rein auf Softwarebasis, welche Funktionalität man realisieren will – und ist dabei nicht auf das Wago-Angebot beschränkt: Mit der Docker-Schnittstelle öffnen sich schier unendliche Möglichkeiten. Auch bestehende Funktionen und SPS-Programme müssen beim Wechsel zu Wago nicht neu entwickelt werden, sondern lassen sich einfach übertragen.

Kann der Kunden entsprechende Features dann über einen App Store bei Wago beziehen?

Lang: Wir bieten typische und viel nachgefragte Funktionen natürlich direkt an. Viel wichtiger ist aus meiner Sicht aber ein öffentlicher Marktplatz im Sinne einer Online Community. Dort spielen wir unsere Wago-spezifischen Apps ebenso ein, allerdings als einer von vielen Anbietern bzw. Wettbewerbern. Auf diese Weise erhält der Nutzer das beste Angebot und kann seinen Warenkorb exakt nach Wunsch füllen.

In wie weit muss Wago dabei zu einer Software Company werden?

Lang: Auf Seite der Klemmen ist das Unternehmen noch stark hardwaregetrieben. Das ist auch nicht falsch. Bei der Automatisierung verhält es sich komplett anders: Hier bildet die Software den Zement zwischen den Ziegeln moderner Lösungen. Ohne diesen elementaren Baustoff geht es nicht. Und so gibt es bei Wago heute rund 300 Mitarbeiter, die sich ausschließlich um die Software kümmern. Zudem wurde das Knowhow in den letzten Jahren auch durch strategische Akquisitionen deutlich ausgebaut.

Bleibt die Hardware dann überhaupt noch ein Differenzierungsmerkmal?

Lang: Als Trägermedium der Software wird auch die Hardware wichtig bleiben. Ohne Ziegelsteine funktioniert es ebenso wenig, wie ohne Zement. Aber die Komponenten werden immer seltener zum entscheidenden Differenzierungsmerkmal – selbst wenn Leistung und Qualität wesentliche Eigenschaften bleiben. Als wichtiges Entscheidungskriterium darf man auch weiterhin den Lösungsgedanken nicht vernachlässigen. Unsere Kunden wollen immer seltener nur eine Komponente – sondern die Lösung für ein bestimmtes Problem, für eine bestimmte Applikation. Die bekommen sie bei Wago, als maßgeschneiderte Software mitsamt der passenden Hardware. Und weil Wago Offenheit nicht nur propagiert, sondern konsequent lebt, können Kunden ganz entspannt bleiben, was die Integration weiterer Funktionen angeht.

Abschließend, Herr Lang: Wohin werden Sie Wago als CEO führen?

Lang: Meine erste Botschaft: Wago ist ein gesundes und stabiles Familienunternehmen und das wird es bleiben. Unsere Stärken entwickeln wir kontinuierlich weiter, wollen aber bewusst auch mehr Neues wagen. Für die Perspektive auf 2025 oder 2030 ist profitables Wachstum die oberste Maxime. Gleich danach kommt der Fokus auf den Kunden. Er soll den Mittelpunkt all unserer Bemühungen bilden. Entsprechend werden wir die internen Prozesse komplett danach ausrichten.

Und bezogen auf Automatisierung?

Lang: Wir werden unser Engagement in diesem Geschäftsbereich noch verstärken und damit die DNA der Federklemme abrunden. Das Produktprogramm dieser Bereiche soll tiefer integriert und Synergien besser genutzt werden. Denn wir wissen: Dort wo unsere Klemmen eingesetzt werden, gibt es in der Regel auch einen Bedarf für unsere Interface-Elektronik und Automatisierung. Folglich sprechen wir unsere Kunden immer mehr im Sinne des Projekt- und Lösungsgeschäfts an – und etablieren uns dadurch als systemrelevanter Partner.

Vielen Dank für das Gespräch.

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