„Gaia-X könnte gut ohne Cloud-Anbieter auskommen“

Bild: SCALEWAY

Gaia-X entferne sich von seinen ursprünglichen Zielen, begründen Sie als CEO von Scaleway Ihren Rückzug aus dem europäischen Cloud-Projekt. Was ist da los?

Yann Lechelle: Die begrüßenswerten Ziele des Zusammenschlusses wurden durch ein Polarisierungsparadoxon abgelenkt und gebremst, welches den Status quo eines weiterhin unausgewogenen Marktumfeldes stärkt. Die jüngsten Entwicklungen, oder deren Fehlen, haben uns einfach zu dem Schluss gebracht, dass Gaia-X nichts für uns ist. Dabei hatten wir anfangs große Hoffnungen in das Projekt gesetzt. Es ist immer deutlicher geworden, dass die ursprüngliche Absicht, Europa bei der Wiedererlangung seiner digitalen Souveränität zu helfen, wahrscheinlich nicht erreicht werden kann – zumindest dachten wir, dass dies das Ziel des Projekts war.

Der wichtigste Grund für unsere Entscheidung ist die Tatsache, dass der Verband weitgehend von großen US-amerikanischen und jetzt auch chinesischen Unternehmen beeinflusst und finanziert wird, von der Vorstandsebene bis hin zu den technischen Arbeitsgruppen. Obwohl wir uns für eine europäische Führung einsetzten, ist der Einfluss weitgehend indirekt und taktisch, da die ursprüngliche Natur des Leitungsgremiums und der Satzung umgangen werden. Es besteht die Gefahr, dass der Verband nur eine weitere in Brüssel ansässige Technologieorganisation wird, die vorgibt, die Interessen aller zu vertreten, während sie in Wirklichkeit den Bedürfnissen der großen Akteure Vorrang einräumt, die ihren Marktanteil konsolidieren, statt Offenheit und gleiche Wettbewerbsbedingungen zu fördern.

Die anfangs auf politischer Ebene auf beiden Seiten des Rheins formulierten Projektziele haben wir vollständig unterstützt, nämlich ‚Gewährleistung der Datenhoheit, -verfügbarkeit, -interoperabilität und -portabilität‘ sowie ‚Förderung von Transparenz‘. Natürlich wussten wir von Anfang an, dass es eine interessante Herausforderung sein würde, eine gemeinsame Vision zu fördern, schon allein aufgrund der beteiligten Unternehmen: die drei französischen Cloud-Service-Anbieter OVH, Outscale und Scaleway standen Branchenriesen aus Deutschland wie BMW, Volkswagen und Deutsche Bank gegenüber, die meist außereuropäische Cloud-Technologien und -Dienste nutzen.

Scaleway und ich persönlich haben deutlich gemacht, dass wir Gaia-X verlassen würden, sollten außereuropäische Unternehmen sich an der Führung des Gremiums beteiligen dürfen. Ob Sie es glauben oder nicht, für einige Projektbeteiligten war bereits das keine Selbstverständlichkeit, weswegen ich sogar mein Veto-Recht nutzen musste, um unserer Auffassung nach katastrophale Weichenstellungen zu verhindern. Aber auch Monate später wurde immer wieder diskutiert: Sollen wir alle Bewerber aus der ganzen Welt aufnehmen? Verständlicherweise sollte Gaia-X offen für globale Akteure sein, wenn sie auf den europäischen Märkten ein – manchmal zu starkes – Standbein haben. Aber hätten wir nicht Kriterien etablieren müssen, die den Eintritt von Unternehmen verhindern, an denen Regierungen von Drittländern beteiligt sind, etwa Palantir oder Huawei?

Wir wollten vermeiden, dass solche Unternehmen mit Verweis auf ihr Wirken an Gaia-X später behaupten könnten, die digitale Souveränität Europas vorangebracht zu haben. Wenn ich mir anschaue, wie auf dem Twitter-Account von Gaia-X vor einigen Wochen der Beitrag von Huawei Europa zur digitalen Souveränität beworben wurde oder ich mir die Sponsorenstruktur des letzten Gaia-X-Gipfels anschaue, muss ich leider feststellen, dass sich diese Entwicklung bereits abzeichnet. Dahinter droht die Gefahr, dass entstehende Standards die dominierenden Akteure begünstigen und nicht den Bedürfnissen der europäischen Technologieanbieter entsprechen. Die Vorstandswahl im vergangenen Juni sandte ebenfalls wenig vielversprechende Signale aus, was die Repräsentanz des europäischen digitalen Ökosystems betrifft: Dem Vorstand gehört jetzt nur noch der Cloud-Service-Anbieter OVH an, da weder Outscale noch Scaleway wiedergewählt wurden. Auch die HPE-Tochter Aruba ist nicht mehr vertreten. Stattdessen sind vier Telekommunikationsbetreiber hinzugekommen. Zudem traten die Wirtschaftsverbände CISPE, Digital Europe und Bitkom dem Vorstand bei, was auch ihren außereuropäischen Mitgliedern direkten Zugang zur politischen Führung des Verbandes verschafft. Insgesamt setzt sich der Vorstand heute mehrheitlich aus europäischen Industrievertretern zusammen, die hauptsächlich außereuropäische Cloud-Technologien nutzen. Neutrale Entscheidungen sind darum kaum zu erwarten. Da keine KMU, Software- oder Open-Source-Unternehmen im Vorstand vertreten sind, bleibt ein weiterer wesentlicher Teil des europäischen digitalen Umfelds unrepräsentiert.

Nochmals: Als Gründungsmitglied unterstützen wir die ursprünglichen Absichten hinter Gaia-X zu 110 Prozent. Mit unserem Austritt wollen wir vermeiden, eines Tages der Tatsache gegenüber zu stehen, dass die wichtigen Fragen zur Interoperabilität, Datenübertragbarkeit und -souveränität – ähnlich wie beim Greenwashing – nur scheinbar gelöst, und diese Scheinlösungen noch dazu auf EU- und nationaler Ebene in den Rang allgemeingültiger Standards erhoben werden.

Was hätten Sie anders gemacht?

Lechelle: Die Definition und Strukturierung von Datenräumen bleibt der interessanteste Aspekt von Gaia-X. Wir hatten große Hoffnungen in die Initiative gesetzt, und in gewisser Weise haben wir diese immer noch. Diese Hoffnungen betreffen aber die Interessen der Cloud-Nutzer, also derjenigen, die Daten erzeugen. Als Cloud-Anbieter ist Scaleway nicht an der Erzeugung von Daten beteiligt. Die Daten werden von unseren Kunden erzeugt. Gaia-X könnte demnach gut ohne die Cloud-Anbieter auskommen, und zwar alle! Dass die großen Cloud-Anbieter in den technischen Gruppen und indirekt in der Leitung des Verbandes mitwirken, ist das denkbar schlechteste Rezept. Zumal jeder dieser Akteure über mehr Mittel verfügt, als das gesamte europäische Ökosystem zusammen.

Der CIO von Dracoon, Marc Schieder, sagte uns Anfang letzten Jahres, der Erfolg von Gaia-X werde im Jahr 2021 entschieden, da in diesem Zeitraum die Interessen der außereuropäischen Stakeholder zu integrieren seien, ohne neue Abhängigkeiten zu schaffen. Dieser Auffassung folgend: Ist das Projekt gescheitert?

Lechelle: Technologieprojekte verzögern sich häufig, von einem endgültigen Scheitern ist derzeit nicht auszugehen. Doch dass der jüngste Gipfel die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllt, könnte sich als fatal erweisen. Das ist zugleich unser Hauptkritikpunkt: Schnelligkeit ist entscheidend in einem Marktumfeld, in dem die dominierenden Akteure ihre Roadmap immer weiter vorantreiben und dabei definieren, was die Cloud von morgen leisten muss. Die Gaia-X-Entwürfe sind bereits mehrere Jahre alt. Wenn im Projekt die Cloud von gestern definiert wird, sinken die Erfolgschancen.

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