Ein Volksfest als Feldtest

Bild 1 | Jedes Jahr ein Publikumsmagnet: der Cannstatter Wasen in Stuttgart
Bild 1 | Jedes Jahr ein Publikumsmagnet: der Cannstatter Wasen in Stuttgart
Bild 1 | Jedes Jahr ein Publikumsmagnet: der Cannstatter Wasen in Stuttgart
Bild 1 | Jedes Jahr ein Publikumsmagnet: der Cannstatter Wasen in StuttgartBild: Martin Witzsch

Vorweg einige Zahlen zum Cannstatter Volksfest auf dem Wasen: 37 Hektar, mehr als 330 Betriebe, 35.000 Sitzplätze, vier Millionen Besucher – und ein Verbrauch von 1.760.000 kWh elektrischer Energie. Damit diese zuverlässig fließt, betreibt der Netzbetreiber Stuttgart Netze Betrieb, ein Kooperationsunternehmen der Netze BW und den Stadtwerken Stuttgart, einen erheblichen Aufwand. Ralf Schwollius, einer der Teamleiter für Betrieb und Instandhaltung, umreißt die Versorgungssituation: „Der Wasen wird von zwei verschiedenen Umspannwerken versorgt, um einen Ausfall per Redundanz nahezu kompensieren zu können. Außerdem sind alle Stationen auf dem Gelände intelligent ausgebaut, d. h. fernüberwacht und ferngesteuert durch eine zentrale Netzleitstelle der Netze BW. So können Schäden und Ausfälle direkt durch die Leitstelle behoben werden.“ Trotzdem ist Ralf Schwollius während der Aufbauphase und der zweiwöchigen Dauer des Festes täglich auf dem Gelände unterwegs. Die zehn Trafostationen und rund 100 Kabelverteilerschränke mit bis zu zehn Anschlüssen halten ihn im Atem. „Das erste Wochenende nach Festbeginn ist für uns sehr interessant“, so Ralf Schwollius. „Dann wird klar, ob die angemeldete Leistung der Realität entspricht.“ Bei dem ersten großen Besucheransturm treten trotz gründlicher Planung immer wieder Engpässe auf. Die Lastschwerpunkte ändern sich von Jahr zu Jahr, selbst einige der großen Fahrgeschäfte wechseln den Standort. Ralf Schwollius ist deshalb auf die Hilfe der anmeldenden Installateure angewiesen, diese wiederum auf die Festzeltbetreiber und Schausteller. Für eine präzise Voraussage bleiben aber zu viele Unbekannte in der Rechnung, allen voran das Wetter.

Bild: Janitza electronics GmbH

Mehr Action, mehr Bier, mehr Energie

Kritische Verbraucher sind die großen Fahrgeschäfte, die nicht nur viel Energie benötigen, sondern das Netz zusätzlich mit Blindleistung, Oberschwingungen und Rückspeisung belasten. Aber selbst die großen, standorttreuen Festzelte machen Ralf Schwollius und den Betreibern Sorgen: Ihr Energiebedarf steigt ständig. Das hat mehrere Gründe. So haben z.B. die Hauptzelte ihre Kapazitäten von rund 3.500 auf jeweils nahezu 6000 Sitzplätze ausgeweitet. Das erfordert größere Kühlungen, Hendlbratereien usw. Jedes Hauptzelt hat eine Anschlussleistung von ca. 600 kW. Zudem sind von dem gesamten Festgelände einschließlich der Wohnwagen-Stellplätze gasbetriebene Heizungen und Kochstellen aus Brandschutzgründen verbannt und durch elektrische Pendants ersetzt worden. Auch die moderne Beleuchtungstechnik bringt keine Entlastung. Ralf Schwollius: „Die Beleuchtungsgrundlast ist zwar gesunken, wird aber durch die neuen Möglichkeiten der LED-Technik überkompensiert.“ Lange Zeit war die Energieversorgung durch hohe Leistungsreserven gesichert. Aber so eine Absicherung stößt in Zeiten steigender Kosten und immer anspruchsvollerer Verbraucher an ihre Grenzen. Die Belastungen durch Leistungselektronik nehmen zu; eine direkte Einflussnahme auf die Betreiber ist schwierig. Ein Fahrgeschäft hat nicht die technischen und wirtschaftlichen Optionen eines Industriebetriebes. „Wir müssen mit den Gegebenheiten klarkommen, das heißt die Anschlüsse entsprechend dimensionieren“, sagt Ralf Schwollius. „Aber auch unsere Kunden, insbesondere die Bierzeltversorger, die die Energieversorgung ab dem Übergabepunkt übernehmen, stoßen an ihre Grenzen. Sie müssen nicht nur die Gesamtversorgung sichern, sondern auch die Versorgung der einzelnen Stationen innerhalb des Zeltes. Dafür brauchen sie Informationen, haben aber relativ wenig Wissen über den Lastverlauf. Deshalb haben sie uns um Unterstützung gebeten.“ Unnötig dimensionierte Reserven vorzuhalten sei keine nachhaltige Option. Benötigt wurde vielmehr eine genaue Echtzeit-Analyse der Energieflüsse, um die vorhandenen Kapazitäten optimal zu nutzen. Mit den althergebrachten Schleppzeigerinstrumenten ist dies nicht zu bewerkstelligen, zumal auch Blindströme und harmonische Störungen erfasst werden sollten. Deshalb wurde der Messtechnik-Spezialist Janitza Electronics beauftragt, eine passende Lösung zu entwickeln.

Bild: Janitza electronics GmbH

Energieerfassung to go: Mobile Messboxen

Lastflussmessung und Spannungsqualitätsanalyse in der Verteilebene gewinnen für alle Netzbetreiber und Energieversorger an Bedeutung. Die Stuttgart Netze hat deshalb den Wasen auch nicht als Einzelmaßnahme betrachtet, sondern als Feldtest für eine zukünftig flächendeckende Lösung. Messtechnik, die diese Extremsituation beherrscht, wird sich auch im Alltagsgeschäft bewähren. Da das Gelände nur in zeitlichen Abständen genutzt wird, sollten die Instrumente mobil bleiben. Deshalb entwickelten die Stuttgart Netze und Janitza gemeinsam mobile Messboxen. Diese erfassen auf der einen Seite die Einspeisung vom Trafo zur Sammelschiene, auf der anderen Seite die Niederspannungsabgänge – letztere vierpolig. Das ist wichtig, denn nur durch die Messung am PEN-Leiter lassen sich Blindströme bzw. Rückspeisungen identifizieren. Ralf Schwollius unterstreicht die Bedeutung der vierpoligen Messung: „Der Bereich der Zwischenharmonischen ist sehr interessant. Der PEN-Leiter hat häufig einen geringeren Querschnitt, trägt aber immer mehr Strom. Wir müssen für die Belastungen Erfahrungswerte sammeln und Tendenzen erkennen.“ Alle Messungen erfolgen über Klappwandler, die sich im laufenden Betrieb ohne eine Unterbrechung des Leiters sowie sicher montieren und wieder entfernen lassen. Herzstück jedes Messkoffers ist wahlweise ein Klasse A Messgerät UMG 512 Pro oder UMG 96RM-E. Mit ihm lässt sich die Spannungsqualität im Netz erfassen sowie alle Daten dokumentieren. Unter dem Hauptgerät sind zwei Messgeräte vom Typ UMG 20CM eingebaut, die über je 20 Stromeingänge verfügen. Somit können die beiden Geräte in Summe zehn NS-Abgänge vierpolig erfassen. Damit lassen sich Lastprofile auch für vermaschte Niederspannungsnetzen erstellen. Außerdem kann man Rückspeisungen und Störungen, wie Oberschwingungen, sichtbar machen. Sehr hilfreich sind für diese Anwendungen auch die offenen Schnittstellen. Auf dem Wasen werden sie für Mobilfunkmodems genutzt. Damit hat die netzführende Stelle Niederspannung der Stuttgart Netze jederzeit Zugriff auf die Daten. Die gleichen Systeme können mit geringem Aufwand auf die Schnittstellen und Steuerleitungen vorhandener Betriebsmittel angepasst werden. Damit werden Redundanzen vermieden und die Investitionen gering gehalten. Die Stuttgart Netze profitiert in mehrfacher Hinsicht von den Messdaten: Sie erhöhen die Versorgungssicherheit, sie erleichtern die Planung, verbessern die Störungsanalyse und sie eröffnen neue Geschäftsfelder im Bereich Dienstleistungen.

Bild 3 | Auswirkungen eines Fahrgeschäfts: Das Diagramm zeigt einen 
positiven Phasenverschiebungswinkel von 
I zu U. Verursacher ist eine induktive und 
zudem unsymmetrische Last.
Bild 3 | Auswirkungen eines Fahrgeschäfts: Das Diagramm zeigt einen positiven Phasenverschiebungswinkel von I zu U. Verursacher ist eine induktive und zudem unsymmetrische Last. Bild: Martin Witzsch

Messdaten für mehr Versorgungssicherheit

Wie schon beschrieben, ist das Wochenende nach Eröffnung des Volksfestes der erste große Stresstest für die Versorgung. Im Prinzip sind die Voraussetzungen gut: Die Stationen sind miteinander über die Niederspannungsleitungen stark vermascht. Durch Netzumschaltmaßnahmen lässt sich zusätzliche Leistung zur Verfügung stellen. Dabei mussten die Verantwortlichen jedoch größere Reserven einplanen, da keine umfassende Lastprofilerfassung zur Verfügung stand. Mit den mobil kommunizierenden Messboxen kann man nun Daten in Echtzeit abgreifen und sogar Störungen, Netzunterbrechungen usw. lokalisieren. Die Techniker können dann gezielt eingreifen, um eine schnelle Wiederversorgung zu ermöglichen. Ralf Schwollius geht noch einen Schritt weiter: „Wir können sogar im Vorgriff feststellen, ob Engpässe drohen und Vorsorge ergreifen, bevor es zu Ausfällen kommt. Außerdem können wir ein Problem besser analysieren und belegen, ob die Ursache bei uns oder beim Kunden zu suchen ist.“ Da die Messgeräte über eine parametrierbare Grenzwertüberwachung verfügen, kann der Kunde festlegen, wann eine Warnmeldung erfolgt und so Ausfälle vermeiden. Ralf Schwollius weist auf einen weiteren Aspekt der Versorgungssicherheit hin: „Was passiert, wenn eine Einspeisung für ein Zelt ausfällt? Natürlich gibt es eine Notversorgung mit Licht, aber der gesamte Betrieb steht. Nun haben wir es nicht nur mit 6000 Besuchern, sondern mit 6000 mehr oder weniger Angetrunkenen zu tun. Wie reagieren diese, wenn der Nachschub ausbleibt? Heute ist die Dynamik anders als noch vor 10-20 Jahren. Auch dieses Verhalten muss bei der Dimensionierung der Versorgungssicherheit berücksichtigt werden.“

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